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Das Dilemma der Personalisierung

  • M. Franz
  • Mar 31, 2022
  • 4 min read

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In unserer industrialisierten “westlichen” Welt haben wir im Laufe der Jahrzehnte immer stärker eine Abstraktion des Geschäftsgebarens verfolgt. In unserer Arbeit verfolgen wir Professionalität - und diese Professionalität ist vornehmlich eine Frage der Grenzsetzung. Das heisst, wir umreissen unserer professionelle Rollen mit einer klaren Linie die zwischen professionellem und unprofessionellem Verhalten mehr als nur einen kleinen Graben aufzeigt. Bewegen wir uns innerhalb dieser Grenzen, so agieren wir professionell. Verletzen wir diese Grenzen, so wird unser Verhalten generell als unprofessionell angesehen. Selbstverständlich gibt es hierbei Variation, denn schliesslich ist die Linie ja nur umrissen und nicht mit Mauer und Graben umbaut.


Es ist also nicht verwunderlich, dass manche Menschen diese Linie überschreiten. Das kann in verschiedenem Verhalten ausgedrückt werden: Unpünktlichkeit, Unzuverlässlichkeit, Lügen, Leugnen, unangemessene Wortwahl, Kleidung, Schuld anderen zuweisen, Veruntreuung, sexuelle Innuendos, etc. Im Großen und Ganzen hat dieser Trend zu Abstraktion dazu geführt, dass wir den Menschen an sich, gerne - und so gut wie möglich - aus unseren beruflichen Interaktionen entfernen. Statt die Persönlichkeit eines jeden Menschen zu akzeptieren, stellen wir gewisse Standards in den Raum, die eine Einhaltung unserer aufgezeigten Grenze darstellen. Natürlich verschiebt sich dieser Standard immer wieder. War es vor 40 Jahren undenkbar in einer gehobenen Position ohne Anzug und Krawatte zu arbeiten oder gar als Frau (!), so hat sich diese Grenze verschoben. Es gibt viele Unternehmen, die ausdrücklich befürworten, dass Angestellte keine formelle Kleidung mehr tragen. Diese Veränderung der Grenzlinie umfasst natürlich viele Bereiche - manche Firmen erlauben, das wir unseren Hund mit zur Arbeit bringen. Oder das wir gemeinsam am firmeneigenen Kickertisch entspannen. Und obwohl dieser Flux allgegenwärtig ist, so definieren wir unsere professionellen Rollen noch immer als rein transaktionalen Austausch. Wir definieren unsere Rollen ganz genau und passen auf, unsere Persönlichkeit nur gefiltert durchschauen zu lassen. Schliesslich müssen wir ja alle “professionell” sein. Interessanterweise gibt es gerade in den letzten Jahren vermehrt Rufe nach einer weniger starren Betrachtungsweise dessen, was wir als “Professionell” bezeichnen. Mittlerweile hat man erkannt, dass es von Vorteil ist, wenn Menschen mehr als nur einen transaktionalen Austausch erfahren sondern sich gegenseitig auch als Mensch - mit Bedürfnissen - anerkennen. Die Grenzen, die wir auch heute noch allzu gerne aufrechterhalten sind nichts weiter als ein Schutzschild. Sie schützen uns - und sie schützen die anderen. Sie stellen sicher, dass wir möglichst wenig Angriffsfläche für andere bieten - so, dass unsere vermeintlichen Schwächen nicht ausgenutzt werden können. Natürlich ist dies sehr verständlich - und das Aufrechterhalten von Grenzen zwischen Privatleben und Arbeit ist ausgesprochen wichtig. Trotzdem ist es immer hilfreich, wenn wir uns als Person in unsere Arbeit einbringen - nicht nur als Kennzahl oder entseelter Mechanismus der etwas produziert. Viele Länder in Latein Amerika haben dies schon - in verschiedenen Gradierungen - lange umgesetzt - oder, vielmehr, hier hat man von jeher einen reinen Fokus auf die Kommodifizierung der menschlichen Beziehung innerhalb des Arbeitsfelds abgelehnt. Stattdessen beginnen Geschäftsbeziehungen häufig zuerst mit einer persönlichen Beziehung. Man lernt sich kennen, man bekommt ein Gespür für den Gegenüber. Noch wichtiger: Man baut gegenseitiges Vertrauen auf und erkundet, ob man zueinander “passt.” Manchmal will man auch erst etwas über die Familie des anderen erfahren, über den Werdegang und den persönlichen und geschäftlichen Hintergrund. Physischer Kontakt ist essentiell und der persönliche Raum ist kleiner als in den meisten “westlichen” Ländern. Erst dann geht man zum eigentlichem Geschäft über. Da Vertrauen so wichtig ist, gibt es mitunter einen faszinierenden und starken Konflikt, der westliche Geschäftspartner regelmäßig vor Probleme stellt. Während wir es ethisch falsch finden, Freunde und Verwandte bevorzugt in die eigenen Geschäfte einzubringen, so sieht man dies in vielen Latein Amerikanischen Ländern als völlig natürlich an. Wir bekommen schnell Visionen von Korruption und Interessenkonflikten - alles Dinge, die wir natürlich nicht vorgeworfen bekommen wollen. Latein Amerikanische Geschäftspartner kämpfen hingegen mit einer ganz anderen Frage: Warum, um alles in der Welt, sollte man einem Fremden mehr als einem Freund oder Verwandten vertrauen? Aber auch hier in Europa hält man noch immer an so mancher dieser Tendenzen fest - meist wohl, ohne dies überhaupt zu merken. Das einfachste Beispiel hierfür sind Bewerbungsgespräche. Zwar hat ein potentieller Arbeitgeber Zugriff auf Zeugnisse, Zertifikate, Referenzen, usw., aber ohne ein persönliches Gespräch geht letztendlich meistens nichts. Auch hier erkennt man also den hohen Stellenwert und die Vorteile, den ein “Persönlichmachen” unserer professionellen Beziehungen haben kann. Sicherlich geht man hier nicht ganz so weit wie in Latein Amerika - was in unserer Gesellschaft ja auch seltsam anmuten würde, aber dennoch ist es uns wichtig, ein Gespür für den Gegenüber zu bekommen. Niemand wird eingestellt wenn der Interviewpartner nach einem Gespräch mit den Kollegen teilt “Dem könnte ich nie vertrauen”. Zusätzlich hält man - zumindest in Deutschland - auch noch immer an einem Motivationsschreiben fest. Wir möchten gerne wissen, warum eine Bewerberin an uns interessiert ist, wir möchten wissen, wer diese Person ist - und wie sie “tickt.” Auf Lebensläufen finden sich noch immer Angaben über den Familienstand, Kinder und Hobbys - alles Dinge, die für eine spätere Ausübung des Berufs in der Regel nicht wichtig sind. Und dennoch halten viele Firmen daran fest. Aus gutem Grund! Kommt nach einem erfolgreichen Ausloten des anderen dann ein Arbeitsverhältnis zustande, so fällt dieser Anspruch jedoch oftmals einfach weg und ein Fokus auf transaktionales Rollenverhalten gewinnt schnell die Oberhand. Das nennen wir “professionell”. Aber ein Wandel ist in Sicht. In den USA werden die Vorteile von persönlicheren Arbeitsbeziehungen schon längst an renommierten Universitäten wie MIT erforscht und propagiert. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis dieser Trend auch in Deutschland verstärkt Fuß fasst.

 
 
 

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